Tunisie: 6 Jahre nach einer Quasi-Revolution, ein Interregnum ohne Ende in Sicht

Sechs Jahre sind nichts, wenn man 90 ist, aber wenn man 20-30 Jahre alt ist, ist es eine lange Zeit. Seit sechs Jahren ist dem tunesischen Volk ein kleinkarierter Diktator entkommen, dessen Evakuierung in ein goldenes Exil im Schatten der saudischen Bohrtürme von der US-Botschaft geordnet wurde. Was die europäischen Medien dooferweise „Jasminrevolution“ nannten (diesen Ausdruck hätten die Tunesier nie im Leben verwendet) duftete sehr bald nach Verfaultem. Wendehalsige Politiker haben geschickt die Dinge erneut in die Hand genommen und etwas zusammengebraut, was im reinsten Gattopardo-Geist: „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern“.

Das Ergebnis ist erdrückend: Tunesien wird von einer Koalition verflochtener Gauner regiert, die sich die Krümel des altbackenen Kuchens aufgeteilt und sehr wenige in die Hände des Pöbels abfallen lassen haben. Die Folterer und ihre Opfer von gestern sind einen historischen Kompromiss eingegangen und haben sich die Posten und Präbenden untereinander verteilt. Die Hoffnungen, die in den Tagen von Dezember 2010-Januar 2011 geweckt wurden– « Pain, Liberté, Dignité nationale » (Brot, Freiheit, Nationale Würde)- haben sich als verrückt erwiesen. Sie wurden von Enttäuschung, Depression und Hoffnungslosigkeit ersetzt. Jeden Tag bringt sich ein Tunesier um. Tausende Anderer wählen den Pfad des glorreichen Freitods zwischen Libyen und Syrien. Die vernünftigsten und am besten ausgestatteten organisieren für sich eine legale Migration, um zu studieren oder „Geschäfte“ zu machen. Die Schlauköpfe machen sich an den Futtertrog der Subventionen dran. Denn es gibt ja so viele Reiche, die es gut mi uns meinen! Deutsche, schwedische, schweizerische, US-amerikanische, japanische, katarische, österreichische Stiftungen, usw. Heutzutage erhalten mindestens 50 000 TunesieriInnen den Lohn einer ausländischen Stiftung, NRO oder SRO (sehr staatliche Organisation). Mit ein paar Millionen Euro ist es „ihnen“ gelungen, einen guten Teil des aktiven Flügels der Jugend zu befrieden, die diese berühmte Quasi-Revolution durchgeführt oder auf Facebook mitgemacht hatte. Die Macht befindet sich da, wo sich die Tresore befinden und weder in den Ministerien noch auf der Straße.

Zygmunt Bauman, der große Pole, der uns eben im Alter von 91, ein Jahr älter als der derzeitige tunesische Präsident Béji Caïd Essebsi, verlassen hat, pflegte zu sagen, dass das große Problem unseres Zeitalters in der Trennung zwischen Macht und Politik bestand: die Macht ist global, während die „Bulitik“ weiterhin versucht, innerhalb der nationalen Grenzen zu überleben, die keiner mehr respektiert. Wir leben somit in Tunesien wie auch -und vielleicht noch mehr als- anderswo im Interregnum, von dem Antonio Gramsci in Anlehnung an den römischen Historiker Titus Livius spricht, der sich auf die Ratlosigkeit der Römer nach dem Tode Ihres Königs Romulus bezog. Die Mehrheit von ihnen hatten in ihrem Leben nur sein Reich kennengelernt und hatten somit keine Ahnung, wer ihn denn ersetzen könnte. Gramsci bezog sich auf den Zeitraum zwischen der russischen Revolution von 1917 und der Machtübernahme von Mussolini im Jahre 1921 mit den Worten: „Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“

Die Herren des Interregnums sind die „Geldgeber“: während die von unten den Himmel angaffen, visieren die von oben die Safes an. Das Land lebt auf Kredit und die Schlaufe erdrosselt es langsam aber sicher. Die Regierungen, die seit 2011 aufeinander folgten, haben sich Geld geliehen, um die Schulden der Diktatur zurückzubezahlen, und dann wurde noch Geld geliehen, um die Schulden der Schulden zu bezahlen. Das Ganze ist ein Teufelskreis ohne Ende in Sicht. Sie haben nicht nur gegen jegliche grundlegende Moral, sondern auch, was noch schlimmer ist, gegen den Hausverstand verstoßen: die Schulden, die sie geerbt hatten, waren gleichzeitig verabscheuungswürdig, illegitim, unerträglich und sogar illegal. Somit sind es genauso auch diejenige, die sie eingegangen sind, um sie zurückzuzahlen. Ein guter Muslim zahlt zwar seine Schulden, aber nur ein Idiot zahlt die Schulden der anderen. Ein Idiot oder ein Perverser.

Ergebnis: Tunesien hat heute 50 Milliarden Dinar Schulden, d.h. 20 Milliarden Euro und mehr als 5 von 32 Milliarden des Haushaltes von 2017 sind für die Zahlung der Schulden vorgesehen. Dieser Haushalt wurde nach 3-4 Monaten Querulieren und Herumbasteln letztendlich mit einem rührenden Konsens vom Parlament bewilligt. Er basiert auf einer Prognose, nach der der Preis eines Erdölbarrels in diesem Jahr 50$ betragen wird (er hat schon die Schwelle von 52 überschritten) und dass der Wechselkurs des Dinars 2,25 für einen 1 $ US (der $ beläuft sich schon auf 2,28 DT) sein wird. Kurz gesagt, echter Unsinn

Die Gewerkschaftler haben ihre Forderungen besänftigt und das gemeine Volk schnallt den Gürtel enger und knirscht mit den Zähnen. Aber es ist noch nicht über das Berg: die Regierung muss auch noch alle Bedingungen der Weltbank erfüllen: die Privatisierung der drei öffentlichen Banken (die Zentralbank wurde schon unabhängig gemacht, ganz nach dem Modell der Bundesreserve der USA und der EZB), der Krankenversicherung, der sozialen Sicherheit, der öffentlichen Energie- und Wasservorsgungunternehmen, und, last but not least, die Abschaffung der Subventionen für die Grundnahrungsmittel und den Treibstoff. Der einzige eventuelle positive Aspekt der Erfüllung dieser Bedingungen besteht wahrscheinlich in einer Reduzierung des Zuckerkonsums. Denn auf diesem Gebiet sind die Tunesier Verbrauchsweltmeister: 36 kg pro Einwohner und pro Jahr, d.h. 100 Gramm pro Tag. Man muss ja die Bitternis des Lebens versüßen. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Denn die folgenden Tabellen sprechen mehr als tausend Worte. Ich möchte mich bei den Genossen des Vereins RAID-ATTAC-CADTM für die Übermittlung derselben bedanken.