Die Volksfront lehnt das Wirtschafts – und Sozialprogramm der neuen tunesischen Regierung ab

von Fathi Chamkhi, Attac Tunesien

27. Februar 2015. Fathi Chamkhi ist Vertreter von RAID-ATTAC-CADTM, Aktivist der Ligue de la Gauche Ouvrière (LGO, Bund der Arbeiterlinken) und seit November 2014 Parlamentsabgeordneter der Volksfront.

Am 5. Februar 2015 haben 81,5 % der Parlamentsmitglieder der neuen Regierung das Vertrauen ausgesprochen.
Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, „den am 14. Januar 2011 eingeleiteten revolutionären Prozess zu beenden“.

Welche Ausrichtung haben die Regierungsparteien?

„Modernisten“, „Islamisten“ oder ganz offen „Liberale“: Egal, wie sie sich nennen, das sind doch alles nur Pseudounterschiede. Die Parteien wissen das ganz genau! Keine von ihnen hat ein Programm, das den Namen auch verdient, oder gar ein Projekt für die Zukunft Tunesiens. (…)

Seit über zwei Jahren verwenden die Parteien Nidaa Tounes und Ennahdha einen Großteil ihrer Zeit dafür zu erklären, warum sie nicht miteinander können. Wie kommt es, dass die beiden nun gemeinsam regieren?

Die Pseudounterschiede verschwinden zusehends. Es gibt keine Nidaa-Tounes-Aufrufe mehr zur Bildung einer breiten demokratischen Allianz zur Verteidigung der „Zivilgesellschaft“ gegen die „islamistische Bedrohung“. Nidaa Tounes konnte sich so formieren und dann die Wahlen gewinnen. Schluss ist auch mit den Aussagen der islamistischen Partei über die Notwendigkeit, die Revolution gegen die Vertreter des alten Ben-Ali-Regimes zu verteidigen. Nach den Wahlen sind die Masken gefallen. Jetzt geht es um die „heilige Allianz“. Die verschiedenen Strömungen der Gegenrevolution bereiten sich eindeutig auf eine gemeinsame Offensive gegen die arbeitenden Klassen und die Jugend vor, die ein besseres Leben und eine Zukunft für sich reklamieren.

Wie wird diese Koalition in den Reihen von Nidaa Tounes und Ennahdha aufgenommen?

Besonders unter der Nidaa-Tounes-Wählerschaft fühlen sich viele durch diese Koalition verraten. Sie stimmten für Nidaa Tounes um zu verhindern, dass die Islamisten Teil der Regierung werden. Mit dem Argument „nützlich wählen“ gegen die „islamistische Gefahr“ hat Nidaa Tounes die Stimmen vieler Parteien aufgesaugt, auch einen Teil der Stimmen der Volksfront. Ennahdha steht ihrem Wählerschwund machtlos gegenüber. Der ideologische Diskurs, mit dem die Partei 2011 die Wahlen gewonnen hatte, ist versandet: Nach der erfolglosen Regierungszeit und dem Eintritt in eine Koalition mit Nidaa Tounes hat Ennahdha für viele einfache Menschen, die noch vor drei Jahren der Attraktion der islamistischen Ideologie verfallen waren, jegliche Glaubwürdigkeit verloren.

Warum verweigert die Volksfront der Regierung das Vertrauen? Warum will sie nicht in die Regierung?

Die Volksfront lehnt die Ennahdha-Minister genauso ab wie die Regierungsmitglieder aus den Reihen des ehemaligen Ben-Ali-Regimes. Der wichtigste Grund aber ist, dass die Volksfront das Wirtschafts- und Sozialprogramm der Regierung ablehnt, das nur ein „erweitertes und vertieftes“ Remake des Ben-Ali-Programms ist. Meiner Meinung nach ist diese Positionierung richtig. Der Diskurs der Volksfront war zwar nicht immer kohärent, aber sie konnte sich letztendlich ganz klar gegenüber allen Angehörigen der derzeitigen gegenrevolutionären Regierungskoalition abgrenzen, die „Modernisten“ und „Islamisten“ vereint.

Wie wird die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung aussehen?

Der Zug ist schon abgefahren! Er fährt wie bisher in eine Sackgasse, aber diesmal fährt er noch schneller. Konkret will die Regierung die Umsetzung des zweiten von IWF und Weltbank aufgezwungenen Strukturreformprogramms weiter vorantreiben und neue Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union auf den Weg bringen. Der soziale Abbau wird weitergehen und damit steigt das Risiko, dass sich die Situation wieder verschärft.

Welche Zwischenbilanz ziehst du für die Volksfront?

* In einer schweren sozialen Krise 15 von 217 Abgeordneten zu stellen (weniger als 7 %), ist nicht genug. (1) Für mich ist das eine Niederlage. Wir liegen weit hinter Nidaa Tounes (86 Abgeordnete) und Ennahdha (69 Abgeordnete). Die Volksfront hat sich sogar von der Union Patriotique Libre (UPL, Freie Patriotische Union, 16 Abgeordnete) überholen lassen, einer Partei, die von einem dubiosen Geschäftsmann gegründet wurde, der lange Zeit in Libyen lebte und nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes nach Tunesien zurückkehrte. In Anbetracht ihrer organisatorischen Schwächen, ihres politischen Wankelmuts, ihrer mangelnden Fähigkeit, Situationen richtig einzuschätzen, und ihres oft zögerlichen Verhaltens hätte das Wahlergebnis der Volksfront aber noch schlechter ausfallen können. Aus heutiger Sicht war es ein klarer Fehler, sich nach dem Attentat auf Mohamed Brahmi im Juli 2013 von Nidaa Tounes in den Front de Salut National (FSN, Nationale Heilsfront) locken zu lassen. (2) Nidaa Tounes hat davon politisch mehrfach profitiert: zunächst durch ihr Spielchen innerhalb des FSN; dann, im Januar 2014, durch das Hinausdrängen von Ennahdha aus der Regierung.

* Die unerfreulichen Nachwirkungen der taktischen Fehler der Volksfront und ihrer mangelnden strategischen Klarheit wurden durch die Handlungen der politischen Gegner gemildert. Nicht nur einmal haben sie der Volksfront indirekt geholfen. So gab es zum Beispiel innerhalb der Volksfront eine heftige Debatte rund um die Frage der Wahlbündnisse: Ein Teil der Volksfront schwamm auf der Welle „nützlich wählen“ und stand einem breiten Anti-Ennahdha-Wahlbündnis positiv gegenüber. Nidaa Tounes half schließlich die Debatte zu beenden, indem sie entschied, allein zur Wahl anzutreten. Das Gleiche passierte bei der Vertrauensabstimmung über die neue Regierung: Die Volksfront stand einer Regierungsbeteiligung an der Seite von Nidaa Tounes untentschlossen gegenüber. Gleichzeitig war Nidaa Tounes aber mehr an einer Koalition mit Ennahdha interessiert. Es stimmt, dass eine Minderheit der Nidaa Tounes gegen diese Koalition mit den Islamisten war und bei der Volksfront Unterstützung suchte. Aber letztlich entschied sich Nidaa Tounes für eine Koalition mit Ennahdha.

* Ja, die Volksfront hat Fehler gemacht und sie hat sie überwunden. Das ist positiv. Jene Kräfte, die der Regierung das Vertrauen ausgesprochen haben, werden jetzt versuchen, die Volksfront zu isolieren. Aber sie ist hoch motiviert, ihre Reihen zu schließen, ihre Organisation zu verbessern, ihre Ideen zu präzisieren und ihre eigenen Lösungen voranzubringen. (…) Die Partei darf sich nicht mit der Parlamentsarbeit begnügen, sondern muss sich in die Bewegungen einbringen, die der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Krise die Stirn bieten wollen.

Das Gespräch führte Dominique Lerouge

(1) Anm. der Redaktion: Nur 54,7% der Wahlberechtigten hatten sich überhaupt registrieren lassen; die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen betrug 69%.

(2) Die LGO hatte auf ihrem Kongress im September 2013 beschlossen, sich vom FSN zurückzuziehen, aber Mitglied der Volksfront zu bleiben, siehe > hier> . Einige Monate später löste sich die FSN auf.