Endlich!
Tunesien überprüft die Schulden des alten Regimes!
Es sieht nach einem Erfolg der Kampagnen für eine Schuldenüberprüfung (Audit) aus:
Die jetzige tunesische Regierung ist der Forderung nach einer Überprüfung der Schulden, die das Regime von Ben Ali gemacht hatte, nachgekommen: Es soll eine Kommission unter der Leitung der Nationalen Verfassungsversammlung gebildet werden. An dieser Kommission zur Schuldenüberprüfung sollen teilnehmen: der Präsident der tunesischen Zentralbank, der Präsident des Rechnungshofs, der Präsident des Verwaltungs- und Finanzkontrollausschusses, der Präsident der nationalen Instanz gegen die Korruption, sechs Mitglieder der Zivilgesellschaft, die in der Frage der öffentlichen verschuldung und deren Überprüfung Experte sind, vier Buchhaltungsexperten, zwei Juristen und vier Vertreter der internationalen Institutionen.
Die Aufgaben dieser Kommission müssen noch genau definiert werden; die Berechtigung der Kreditanträge, die Zinssätze, die an den Verhandlungen Beteiligten, die Konditionen der Kreditgeber sollen untersucht werden.
Wird es dabei „nur“ um die Aufdeckung von Korruption gehen, oder wird es auch darum gehen, den Charakter der Kreditverträge sowohl mit den Finanzmärkten als auch mit den internationalen Institutionen zu bewerten – um zu einer Annullierung von Schulden zu kommen? Auf die konkrete Entwicklung der Arbeit dieser Kommission können die Initiativen für Schuldenaudit /Schuldenstreichungen einwirken – in Tunesien wie in Europa.
Initiativen in Europa aber auch Parlamentarier fordern, dass ihre eigene Regierung ein Schuldenmoratorium beschließt und dass die Schulden überprüft werden, um sie bei Illegimität zu annulieren (S. SiG Nr. 92).
Wir dokumentieren hier den Brief an die französischen Abgeordneten von ACET (Für ein Audit der Gläubigerforderungen gegenüber Tunesien) und CADTM (Komitee für die Annulierung der Schulden der Dritten Welt)
Meine Damen und Herren Abgeordnete,
(…) Es ist ein Jahr her, dass das tunesische Volk den Diktator Ben Ali verjagte und soziale Gerechtigkeit einforderte. Aber die wirtschaftliche und soziale Lage hat sich 2012 kaum verbessert, hauptsächlich wegen der von diesem Diktator hinterlassenen kolossalen Schulden.
In der Tat ist der Großteil der Finanzmittel des Landes zur Zeit vorrangig der Schuldentilgung gewidmet. Einige Zahlen zum Vergleich: die Budgetmittel für die Rückzahlung der staatlichen Schulden Tunesiens repräsentieren das Achtfache der Mittel für Soziales, das Achtfache der Mittel für die Regionalentwicklung, das Dreifache der Mittel für Gesundheit und das Sechsfache der Mittel für Beschäftigung.
Angesichts dieser Lage ist es dringend erforderlich, die Tilgung dieser Schulden auszusetzen und ein Schuldenaudit durchzuführen. Das Audit wird es möglich machen, die Umstände, die beim Abschluss dieser Kredite vorherrschten, zu erfahren; man wird erfahren, wofür sie verwendet wurden, wo die Verantwortlichkeiten liegen und wie hoch der Anteil der illegitimen Kredite1 ist, um sie dann bedingungslos zu annulieren.
Mehrere Argumente sprechen hierfür:
Die tunesische Zivilgesellschaft hat nach dem Sturz Ben Alis eine Kampagne mit folgenden Forderungen gestartet (über die Vereinigung RAID, Mitglied des internationalen Netzwerks CADTM und ATTAC): Aussetzung der Schuldenzahlungen, Durchführung eines Schuldenaudits, Annulierung des illegitimen Teils der Schulden, damit die Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden können.
In Europa wurde ein Aufruf, der 2011 von CADTM und den Europa-Abgeordneten Marie Christine Vergiat et Gabi Zimmer verbreitet wurde und der für die Durchführung eines Moratoriums und eines Audits der Gläubigerforderungen gegenüber Tunesien warb, von 120 Abgeordneten des europäischen Parlaments(2) unterzeichnet.
Zwei parlamentarische Entschließungen mit den Hauptforderungen der tunesischen Kampagne wurden ebenfalls 2011 verabschiedet: Moratorium und Audit, unabhängig von den tunesischen Staatsschulden. Die erste Entschließung wurde von der Paritätischen Parlamentarischen Versammlung AKP-EU im Mai 2011(3) verabschiedet, die zweite im Juli 2011 vom Belgischen Senat (4).
Schließlich verabschiedete das Europäische Parlament am 10. Mai 2012 eine Entschließung über die Strategie der EU in Sachen Handel und Investitionen für den Süden des Mittelmeeres nach den Revolutionen des Arabischen Frühlings, die „die Auslandsverschuldung der Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens als illegitim bezeichnet, da diese von diktatorischen Regimes angehäuft wurde, hauptsächlich im Wege einer persönlichen Bereicherung der politischen und wirtschaftlichen Eliten und über den Kauf von Waffen, die oft gegen deren eigene Bevölkerung benutzt wurden“.(5)
Einige Kredite Frankreichs, das soll hier auch erwähnt werden, haben wahrscheinlich dazu gedient, in Tunesien Sicherheits- und Unterdrückungsgerät zu finanzieren (davon zeugt die Affaire „Amesy“ (6) und ebenso der verhinderte Export von Sicherheitsgerät, der am Tag der Flucht des Präsidenten Ben Ali stattfinden sollte). Das führt zu der Frage, inwieweit die französischen Forderungen gegenüber Tunesien legitim sind.
In dieser Situation muss sich Frankreich verantwortlich zeigen und folgendes beschließen:
– die Zahlung tunesischer Schulden an Frankreich zurückweisen bis ein Audit durchgeführt ist;
– die Durchführung eines Audit zu diesen Schulden erleichtern, indem Frankreich den tunesischen Behörden alle für dessen Durchführung nützliche Dokumente zur Verfügung stellt. In der Tat hat sich Präsident Marzouki öffentlich für ein Audit der tunesischen Schulden ausgesprochen (7);
– nicht auf Repressalien gegen den tunesischen Staat zurückgreifen, falls dieser einseitige Maßnahmen zu seinen Schulden ergreifen sollte;
– die illegitimen Forderungen, die gegenüber Tunesien gehalten werden, nach dem Vorbild Norwegens annulieren. Das ist durchaus möglich und Norwegen hat dafür den Weg aufgezeigt, als es 2006 einseitig und bedingungslos seine illegitimen Forderungen gegenüber fünf Ländern annuliert hat. Es sei daran erinnert, dass Frankreich der wichtigste bilaterale Gläubiger Tunesiens ist.
– in den internationalen Gremien die diplomatischen Bemühungen dahin gehend verstärken, dass die als illegitim angesehenen Auslandsschulden annuliert werden, die multilaterale Institutionen als Forderungen gegenüber Tunesien halten. Frankreich hat angesichts seines politischen Gewichts in der EU und in den internationalen Finanzinstitutionen in der Tat eine bedeutsame Rolle zu spielen.
Frankreich und Tunesien stehen an einem Wendepunkt ihrer jeweiligen Geschichte. Jetzt ist die Gelegenheit, zwischen beiden Seiten eine Beziehung auf den gesunden Grundlagen wechselseitiger Achtung, im Geiste der Gegenseitigkeit und Brüderlichkeit wieder aufzubauen.
Mit besten Grüßen,
*ACET (Auditions les Créances européennes envers la Tunisie = Audits der europäischen Forderungen gegenüber Tunesien)
Video (auf Französisch) einer Konferenz am 15.1.“Ihre Schulden, unsere Demokratie“:
*CADTM (Comité pour l’Annulation de la dette du Tiers-Monde = Komitee für die Annulierung der Schulden der Dritten Welt)
1) Zu den illegitimen Schulden www.cadtm.org/Dette-illegitime-l-actualite-de-la
2) www.cadtm.org/Appel-des-parlementaires-europeens,6560, in SiG 92 übersetzt.
3) www.europarl.europa.eu/intcoop/acp/2011_lome/pdf/adopted_ap101.111_fr_collated.pdf
5) www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do
6) reflets.info/surprise-la-tunisie-utilisait-des-technologies-francaises-pour-espionner-sa-population/
7) www.lapresse.tn/28062012/51924/marzouki-oppose-son-veto-a-laugmentation-des-droits-de-tirage.html
Zitiert in: cadtm.org/Lettre-aux-deputes-francais-Audit
Übersetzung : Jürgen Janz, coorditrad