von Eric Toussaint
Interview mit Eric Toussaint, CADTM, geführt von Denis Horman für die belgische Monatszeitung La Gauche (gekürzt)
La Gauche: Das 1990 gegründete Komitee für die Streichung der Schulden der Dritten Welt (Comité pour l’annulation de la dette du Tiers monde, CADTM) hat über 20 Jahre hinweg eine gründliche Expertise zu den Schulden durchgeführt, von denen die Länder des Südens betroffen sind, und für eine bedingungslose Streichung dieser öffentlichen Schulden plädiert. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den öffentlichen Schulden der Entwicklungsländer und denen der Länder im Norden?
Eric Toussaint: Die öffentlichen Schulden im Norden sind jetzt der willkommene Vorwand zur Rechtfertigung der Haushaltskürzungen nach dem Modell der Strukturanpassungspläne, die die Länder des Südens seit Anfang der 1980er Jahre zu erleiden hatten. Nachdem 2007/2008 die schwerste Krise seit 1929 ausgebrochen ist, sind die Länder der Europäischen Union ebenfalls mit einem noch nie da gewesenen Sozialabbau unter der Fuchtel der „Troika“ – des Internationalen Währungsfonds (IWF), der EU und der Europäischen Zentralbank (EZB) – konfrontiert. Überall werden die gleichen Maßnahmen getroffen: Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst, Entlassungen, Wegfall der Stellen derjenigen, die in die Rente gehen, Erhöhung des Renteneintrittsalters, Privatisierungen… Wir erleben eine neue Offensive des Kapitals gegen die Arbeit.
Die „Troika“ und die Regierungen fassen keine anderen Wege ins Auge, um die öffentlichen Schulden und Defizite zu vermindern, die eine untragbare Höhe erreicht haben. Mehr oder minder überall ist ein Ansteigen der Staatsverschuldung festzustellen. Doch stellen wir uns die Frage: Woher kommt das?
Ich möchte drei Aspekte der explosionsartigen Zunahme der öffentlichen Verschuldung im Norden ansprechen.
- Anfang der 1980er Jahre sind die Zinsraten im Süden und im Norden aufgrund einer in Washington getroffenen Entscheidung nach oben geschnellt.
- In den Jahren 1990 bis 2000 ist in Europa neoliberale Politik umgesetzt worden, die sich in Steuer-Gegenreformen mit einer Verminderung der Steuereinnahmen aufgrund einer beträchtlichen Verminderung der Steuern auf die Gewinne der Privatunternehmen und die Einkommen der reichsten Haushalte kristallisiert hat. Die Staaten haben diese Situation durch die Anhebung der indirekten Steuern, der Mehrwertsteuer, die Anhebung der Besteuerung der abhängig Beschäftigten und durch neue Anleihen bei den Reichsten teilweise gelindert.
- Dann hat im Oktober 2008 in einer ganzen Reihe von Ländern des Nordens die Rettung der Privatbanken stattgefunden, die unsinnige Risiken eingegangen waren und Finanzspekulation betrieben hatten. Eine Rettung mit Hilfe von Hunderten von Milliarden Dollar und Euro, mit dem Geld der SteuerzahlerInnen. In Belgien hat der Staat 20 Milliarden Euro hingelegt, um Fortis, KBC, Dexia und Ethias zu „retten“. Diese Bankenrettung hat für die Zunahme der öffentlichen Schulden in Belgien eine ausschlaggebende Rolle gespielt.
All diese Elemente veranlassen mich, einen Teil der öffentlichen Schulden als illegitim zu bezeichnen.
La Gauche: In seiner Arbeit über die Schulden, von denen der Süden betroffen ist, hat das CADTM die Begriffe der verabscheuungswürdigen, illegitimen und illegalen Schulden herausgestellt, gestützt auch auf eine juristische Argumentation, und damit die Aussetzung der Tilgung dieser Schulden bzw. deren Streichung und Aufkündigung gerechtfertigt. Spricht sich das CADTM auch für die Streichung der öffentlichen Schulden der Länder des Nordens aus?
Eric Toussaint: Das CADTM spricht sich für die Streichung des illegitimen Teils der öffentlichen Schulden aus. Es gibt verschiedene internationale Abkommen – die Charta der Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Erklärung der UNO zum Recht auf Entwicklung, die Internationalen Pakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aus dem Jahr 1966 usw. –, auf die man sich stützen kann, um die Aussetzung und die Aufkündigung bzw. Streichung der öffentlichen Schulden zu rechtfertigen. Der Begriff der Illegitimität umfasst insbesondere die verabscheuungswürdigen und illegalen Schulden.
Die mit dem IWF, der Europäischen Kommission, der EZB oder auch auf den Finanzmärkten vereinbarten Schulden, die für diese Instanzen die Anwendung von Politik der Strukturanpassung oder der Sparpolitik unter Verletzung der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, zivilen und politischen Rechte rechtfertigen, können als verabscheuungswürdige Schulden [odious debts] eingestuft werden. Die brutalen Sparpläne, die in Ländern wie Rumänien, Ungarn, Lettland und dann in Griechenland, Irland, Portugal angewendet worden sind, um die öffentlichen Schulden und Defizite wegzubekommen, haben die Verletzung der grundlegenden Menschenrechte zur Folge. Die Schulden, die mit diesen Plänen zur Strukturanpassung verbunden sind, können als verabscheuungswürdig betrachtet werden und müssen gestrichen werden.
Es gibt jetzt eine andere Kategorie von Ländern – Frankreich, Großbritannien, Belgien und andere Länder der Europäischen Union, die Schulden gemacht haben, die als illegitim eingestuft werden können. In diesen Ländern haben die Regierungen bewusst eine Politik betrieben, die sozial ungerecht ist und über Maßnahmen zugunsten der kapitalistischen Klasse eine Zunahme der öffentlichen Schulden zur Folge gehabt hat. Das habe ich bei der Darstellung der Hauptgründe für die Verschuldung dieser Staaten bereits erklärt: die Steuer-Gegenreformen zum Nutzen der Privatunternehmen und der hohen Einkommen, die Bankenrettung mit dem Geld der Allgemeinheit usf. Diesem Teil der öffentlichen Schulden, der für einen gigantischen Transfer von Reichtum zu den Banken und den Finanzfonds auf Kosten der Lohnabhängigen hinaus sorgt, in einem Maße, wovon das Kapital nur träumen konnte, prägen dreißig Jahre neoliberale Politik den Stempel der Illegitimität auf. Diese illegitimen Schulden müssten gestrichen werden.
siehe
Sand im Getriebe 91: > Democracia real YA !! Echte Demokratie JETZT!
„Wir verkaufen nichts, wir schulden nichts, wir zahlen nicht !
Sand im Getriebe 86: > Dollardämmerung, Währungsgewitter
La Gauche: Das > CADTM zeigt auf, dass es möglich ist, das todbringende Räderwerk der Schulden im Süden zu zerbrechen. Können diese Beispiele auf den Norden übertragen werden?
Eric Toussaint: Eine der fortgeschrittensten Erfahrungen ist die in Ecuador, wo Ende 2006 nach großen sozialen Mobilisierungen ein neuer Präsident gewählt worden ist, Rafael Correa. Er hat dafür gesorgt, dass im Juli 2007 eine Kommission für Schulden-Audit mit 18 Fachleuten eingerichtet worden ist, der ich für das CADTM angehört habe. Das Mandat, das diese Kommission erhalten hat, war, ein Audit über 30 Jahre öffentlicher Verschuldung sowohl im In- als auch im Ausland durchzuführen. Nach 14 Monaten Arbeit ist die Kommission zu der Schlussfolgerung gelangt, dass ein großer Teil der analysierten Schulden Kennzeichen von Illegitimität tragen. Im November 2008 hat die Regierung, gestützt auf den Bericht der Kommission, beschlossen, die Rückzahlung der Schulden auszusetzen, die zum Teil bis 2012, zum Teil bis 2030 laufen. Nach acht Monaten ohne Rückzahlungen ist die Regierung dieses kleinen Landes mit 13 Millionen EinwohnerInnen als Siegerin aus der Kraftprobe mit den nordamerikanischen Bankiers, den Inhabern der Titel der ecuadorianischen Schulden, hervorgegangen. Sie hat für 900 Millionen Dollar Schuldentitel im Wert von 3,2 Milliarden Dollar aufgekauft. Unter Berücksichtigung der Zinsen, die Ecuador nicht bezahlen muss, denn es hat Schuldentitel aufgekauft, die bis 2012 oder 2030 liefen, hat der ecuadorianische Staat rund 7 Milliarden Dollar eingespart. Das hat es möglich gemacht, neue Finanzmittel für soziale Ausgaben im Gesundheitsbereich, in der Bildung, für Sozialhilfe usw. freizumachen. Sicherlich war dies keine Aufkündigung der illegitimen Schuld, doch ein außerordentlich wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Auch in Europa gibt es wichtige Schritte in diese Richtung. In mehreren Ländern – nach Frankreich nun in Griechenland, Portugal, Spanien – gibt es eine mächtige Zunahme von sozialen Mobilisierungen. Man kann sagen, dass Griechenland das Epizentrum einer massiven Reaktion zum Thema der Schulden ist, und dies im Kontext von sozialen Mobilisierungen und immer härteren Streiks.
Im März 2010 haben über hundert griechische und internationale Persönlichkeiten einen Aufruf für die Bildung einer Kommission für ein Audit der öffentlichen Schulden verfaßt. Im Dezember 2010 hat eine unabhängige Abgeordnete namens Sofia Sakorafa im griechischen Parlament eine Rede gehalten, die Beachtung gefunden hat, und in der sie die Einrichtung solch einer Kommission vorgeschlagen hat. Vier Abgeordnete haben mit der PASOK gebrochen und sich geweigert, für den Haushalt 2010 und das Memorandum, das Griechenland vom Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgezwungen worden ist, zu stimmen. Nach dem Vorbild der griechischen radikalen Linken haben diese Abgeordneten die Bildung eines griechischen Komitees gegen die Schulden gefordert und unterstützt; es hat sich gebildet und wird von Gewerkschaften, mehreren politischen Parteien und zahlreichen Intellektuellen unterstützt. Dieses Komitee wird ein Audit vornehmen, damit man weiß, welcher Teil der griechischen Schulden verabscheuungswürdig, illegitim und illegal ist. Selbstverständlich kann sich dieses Vorhaben in Griechenland im Gegensatz zu Ecuador nicht auf die Regierung stützen, hier haben wir eine sozialliberale Regierung, die den arbeitenden Menschen und der Bevölkerung eine brutale Sparpolitik aufzwingt. Von daher ist es wichtig, diesen Ansatz mit sozialen Mobilisierungen zu unterstützen.
La Gauche: Das > CADTM hat oft darauf aufmerksam gemacht, dass eine radikale Herabsetzung der öffentlichen Schulden eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung ist, um eine Wirtschafts- und Sozialpolitik im Dienst der Bevölkerung einzuleiten? Was heißt das?
Eric Toussaint: Hierzu möchte eine erste Überlegung vortragen. Bis vor kurzem ist ein großer Teil der Gewerkschaftslinken und sogar der radikalen Linken der Auffassung gewesen, dass der soziale Widerstand gegen die Angriffe der Unternehmer und der Regierungen nicht unbedingt bedeutet, die Frage der öffentlichen Schulden zu einem der zentralen Elemente dieses Widerstands zu machen.
Auf der anderen Seite haben bestimmte Organisationen der radikalen Linken, die eine radikale Position für die Streichung bzw. Aufkündigung der öffentlichen Schulden bezogen haben, ein Audit zu den Schulden als unnütz und überflüssig eingeschätzt, da es ja darum gehen soll, diese Schulden en bloc abzulehnen. Das war die Haltung von manchen linken Organisationen in Griechenland.
Ein anderer Teil der Linken, auch der radikalen Linken, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Folgen einer Infragestellung der Schuldenzahlung, sie haben gesagt: „Vorsicht, solch eine Position wird für das Land und seine Bevölkerung einen Bumerangeffekt haben. Das wird Strafmaßnahmen zur Folge haben; für die Gehälter im öffentlichen Dienst, die Renten usw. wird kein Geld mehr da sein…“
Glücklicherweise beginnen sich die Dinge zu ändern in Bezug auf die Bewußtwerdung und die lebenswichtige Bedeutung einer radikalen Herabsetzung der öffentlichen Schulden bzw. die Streichung der illegitimen Schulden.
Wenn man will, dass solch ein Vorgehen nicht auf Kosten der BezieherInnen von Löhnen und Sozialleistungen geht, muss es natürlich mit Maßnahmen für eine wahre Steuergerechtigkeit kombiniert werden, damit alle, die Firmen und die einzelnen Personen, Steuern entsprechend ihrer Zahlungsfähigkeit abführen. Das fordert in Belgien seit einer Reihe von Jahren das Netzwerk für Steuergerechtigkeit (Réseau pour la justice fiscale, RJF), dem etwa 40 Verbände angehören, darunter die beiden großen Gewerkschaftsverbände, ABVV/FGTB und ACV/CSC.
Aus dem Französischen übersetzt von Wilfried Dubois
Vollständiges Interview: > www.cadtm.org/La-dette-illegitime-des-pays-du
Eric Toussaint hat zusammen mit Damien Millet ein neues französischsprachiges Buch über die Staatsschulden herausgegeben (La dette ou la vie, Bruxelles: Editions Aden; Liège: CADTM, 2011, 384 S.).
Auf Deutsch liegen von ihm die beiden Bücher vor: Profit oder Leben. Neoliberale Offensive und internationale Schuldenkrise (Köln: Neuer ISP Verlag, 2000); Die Bank des Südens und die Weltwirtschaftskrise. Bolivien, Ecuador, Venezuela und die Alternativen zum Neoliberalismus (Köln: Neuer ISP Verlag, 2010).
Weitere Lese-Tipps:
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